Klasse Sandra Schäfer  |  Raum Altbau | A.O2.64

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Menschen gehen, Orte bleiben… mit allen Geschichten, die man ihnen anvertraut. Unsichtbare Schicksale, welche jungen Generationen auf den ersten Blick verborgen bleiben. Erinnerungen, die verschmelzen mit einer ungeschriebenen Zukunft, schaffen Möglichkeiten der Neubesetzung. Verlässt man seine Heimat oder nimmt man sie mit? Blednout, tschechisch für „verblassen“ steht für eine Erinnerung, welche nach und nach entgleitet. Meine Großmutter, die damals zehnjährige Hedi, erinnert sich 2019 im Alter von 84 Jahren auf einer Reise in das heutige Domažlice, ihren Geburtsort, an den sogenannten Transfer, welcher in Folge der Beneš-Dekrete der damaligen tschechischen Exilregierung, die sich von den deutschen Okkupanten befreien wollte, zwangsweise zur Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung führte. Diese mussten die tschechischen Gebiete verlassen, nachdem jahrhundertelang ein friedliches Miteinander in den Gebieten Böhmen und Mähren möglich war, welches durch die zunehmende Nationalisierung, den Einmarsch der Nazis 1938 in Prag und die Verbrechen an der tschechischen Bevölkerung ein jähes Endes fand.
In einer Komposition aus raumgreifender Installation von Wurfscheiben und Schrotkugeln, einer 5-Kanal-Soundarbeit und zwei sich ergänzenden Arbeiten aus Schellackschallplatten verhandelt die Ausstellung Blednout die Thematik aus biografischer Sicht. Dabei begegnen sich immer wieder Aspekte des Erinnerns und des Bruchs.

 

 

5-Kanal-Soundarbeit | Aluminium-Klangkapseln
Beim Betreten des Raums empfängt ein invertiertes, zweistimmiges Lied – ein altes tschechisches Heimatlied über Domažlice – welches, während jener Reise 2019, von Hedi und Eva, der Tochter eines tschechischen Bekannten aus frühen Tagen, gemeinsam gesungen wurde. In umgekehrter Richtung spielt dieses mit den eigenen Lautfolgen, in welcher sich die russische Formel für „Auf Wiedersehen“ до свида́нья (do svidánʹja) [də‿svʲɪˈdanʲɪjə] verbirgt. Einerseits steht dies für Abschied, andererseits ist es Inbegriff eines Erinnerns und zugleich auch Wiedersehens.
Kurz darauf setzt die Stimme einer Frau ein. Hedi erzählt auf der Hauptstraße von Domažlice, wie ihr Vater damals inhaftiert und im Gefängnis schikaniert wurde, indem er ein Blatt Papier mit der Nase stundenlang an der Wand halten musste. Die entsprechende Klangkapsel greift dabei in Form ihrer Installation ein Detail des Narrativs auf, lose und durch das Eigengewicht einer massiven Stahlstange fragil in Balance gehalten. Ein Schuss fällt. Die dokumentarische Erzählung bricht auf, verweist auf die neue Heimat, in der Hedis Vater, mein Urgroßvater, nach der Flucht als Forstmeister eingesetzt war. Das Geräusch entstammt dem 1980 gegründeten Wurftaubenverein (Aufnahme 2023) - in seiner akustischen Ambivalenz zwischen gewaltvoller Vertreibung und Sportschützentraining oszillierend. Zwei weitere Kapseln spiegeln den Bruch und die Zersplitterung ebendieser Wurftauben, die beim Gang durch die bewaldete Schießanlage eine merkwürdige Fragilität des Erdbodens transportiert. Mitunter stellt sich hier die kritische Frage nach der Haltbarkeit von Menschen definierter, territorialer Besitzansprüche. Zur Synthese von Schuss und Scherbe kommt es bei der fünften Kapsel, die sich aus dem Sound eines Pixelsynthesizers speist. Die akustische Transformation einer Fotografie des, mit orangeleuchtenden Scherben übersäten Waldbodens beschreibt die Bassline der polyrhythmischen Komposition. Eine Timeline schiebt sich unaufhörlich über ein Foto, jeder Kontakt der Linie mit den zahllosen Splittern der Bildfläche provoziert dabei Knistern, Knacken, Knallen.

 


Kinetische Plastik aus 70 Schellackschallplatten | Audiokabel
6 Monotypien | Landschaftssilhouette aus gelösten Schellackschallplatten
Eine Silhouette, die schemenhaft den Horizont einer vergangenen Landschaft beschreibt, entsteht durch sechs Monotypien, welche aus, in Alkohol gelösten Schelllackschallplatten auf
säurefreien Zeichenkarton gedruckt sind. Die sukzessive Verdünnung des Schellacks gibt dabei nach und nach den Blick in die Tiefe frei: was zunächst als pastoses und schwarzes Relief in seiner Oberfläche starr und craqueléhaft erscheint und nur im Streiflicht sichtbar wird, gibt in zunehmender Lasur durch Graustufennuancierung eine felsähnliche Oberflächenstruktur wieder, die eine immersive Tiefenwirkung eröffnet. Eine Überwindung verhärteter Fronten hin zu einer Spurensuche vergangener Wege. Im Kontrast dazu, eine Arbeit aus dem Jahr 2021, die ebendieses Schellackmaterial in seinem ursprünglichen Zustand erahnen lässt. Eine kinetische Plastik aus 70 verklebten Schellackschallplatten, welche sich dadurch definiert, dass sie, von militärischer Marschmusik begleitete sexistische Schlager von 1958 zu einem stummen Klumpen komprimiert, wodurch sich wiederum das Material in seiner neu gewonnenen Kreisbewegung erweiterten Spielraum aneignet und alternative Formen beschreibt.



Bodeninstallation aus je 1.200 neonorangen Tontaubenscheiben und Schrotkugeln

Sowohl die akustische Komponente der Scherben als auch die schemenhafte Beschreibung fernen Landschaftslinien finden ihr Pendant in einer Bodeninstallation aus je 1.200 Wurfscheiben und Schrotkugeln. Ein filigranes Sortiment der aufgereihten Tontauben zeigt den Verlauf von verblassten, ausgebleichten Scheiben bis hin zu jenen in ihrer neonorangen Originalfarbe, die sich zu Reflexen eines Farbschattens an der Wand hinreißen lassen. Dabei handelt es sich im Verlauf um unterschiedliche Materialien: zum einen die ursprünglichen Wurfscheiben aus dem Material Ton, die unvergänglich sind und sich lediglich in den Waldboden eingraben. Auf ihnen haben sich diverse Spuren des Waldbodens und die Patina der vergangenen Jahre niedergeschlagen. Die neuen Wurfscheiben hingegen unterscheiden sich von diesen gänzlich, sie bestehen aus umweltfreundlichem Kiefernharz und degenerieren von selbst, beginnend mit einem Verlust der Farbe – einem Verblassen – bis hin zur Zersplitterung. Diese zerfallen schließlich in unendlich viele Einzelteile, pulverisieren, bis sie vom Boden aufgenommen werden. Die Installation spielt mit diesem Farbspektrum und legt durch die Unterschiede von hellen und dunklen Farben eine Topografie offen, welche die vertikale Landschaftssilhouette (6 Monotypien) in die Horizontale kippt. Wie eine Iris um die Pupille, stellt die Assoziation Auge wahrnehmungspsychologische Bezüge her, welche auf die Oppositionen dieser historischen Grenzsituation nach 1945 hinweisen, aber auch unweigerlich verknüpft sind mit der Vorgeschichte der Vertreibung, den Gräueltaten der Nazis, auch an der tschechischen Bevölkerung im damaligen Böhmen und Mähren. Im Jahr 2019 spricht der tschechische Botschafter erstmals auf dem Jahrestreffen der Sudetendeutschen in Regensburg. Bis heute obliegt jedoch die Aufarbeitung der, politisch evozierte Traumata den Familien selbst und deren Bereitschaft, Begegnung und Dialog zu suchen.