Freifläche
Nichts prägt das Gebäude der Akademie der Bildenden Künste München mehr als ihre Arkaden. Die 93 Bögen dominieren die Architektur, sie bilden das Logo und sie finden sich sogar auf den Studierenden-Ausweisen wieder. Sie symbolisieren Macht und Erhabenheit, Gestaltungswille und Harmonie.
Jede Studentin und jeder Student kennt die Sinneseindrücke, die das Gebäude, ausgehend von diesen Arkaden, vermittelt: Die langen, lichtdurchfluteten Gänge, der glatte Marmorboden, das hallende Geräusch von Stimmen, Schritten und Rollen, das Auf und Ab des Aufzuges, das Hämmern und Sägen der arbeitenden Student:Innen, das Knallen und Quietschen der großen, schweren Ateliertüren, das Auf- und Abgehen auf den beiden großen, sich spiegelnden Treppen und das Durchschreiten der Eingangshalle.
Diese Einrichtung bedeutet Schutzraum und Angriffsfläche zugleich. Herz des Gebäudes scheint das Vestibül zu sein. Für seine Abschlussarbeit füllt es Milen Till mit Straßenpollern, die ununterbrochen auf und ab fahren und von Glashauben umhüllt sind. Wie in einer großen Herzkammer pumpen sie sich auf und senken sich wieder ab, wie in einem Maschinenraum der kritischen Infrastruktur sind sie unermüdlich in Betrieb und stehen nie still. Milen Till stellt zwei klassische Präsentationsobjekte für Kunst in den Mittelpunkt seiner Abschlussarbeit Freifläche: Den Sockel und den Glassturz. Sie sind für ihn wie eine Übersetzung oder Metapher der Akademie, formal wie inhaltlich. Sie verkörpern alles, was er mit diesem Ort verbindet – Schutz und Angriffsfläche, vom Sockel stoßen oder sich unter der Haube verkriechen, Fragilität und Standhaftigkeit, Transparenz und Beweglichkeit, Isolations- und Konservierungseigenschaften, das Auf und Ab des Selbstbewusstseins. So wie die Ateliers der Akademie sind die Glasglocken im Inneren leer. Doch sie füllen sich immer wieder aufs Neue auf, Semester für Semester, bevor sie dann wieder zu leeren Präsentationsflächen werden, welche dann ebenfalls wieder gefüllt werden. Es ist ein ständiges Hin und Her, ein sich stets wiederholender Auf- und Abbau, alle sechs Monate das gleiche Spiel: leerräumen, abtransportieren, Leere, aufbauen, Fülle. Die langen Wege, die schweren Anfahrtsmöglichkeiten, das Füllen und Leeren des Aufzugs, die Suche nach raren Transportwägen - ein nie endendes Rad. Hoch, runter, alles nur temporär und im ständigen Kreislauf. Keine Beständigkeit, kein Halt. Das einzig Beständige scheint die Hülle, die Glocke, die Architektur zu sein, die Räume der Akademie und ihre Fenster, durch die das Tageslicht im Osten auf und im Westen untergeht. Die Akademie erinnert an ein großes Parkhaus, in dem jeder Immatrikulationsnummer die Parkuhr abläuft und alles in Bewegung bleibt.
Die Abschlussarbeit mit dem Titel Freifläche hinterfragt auch die vermeintliche Symbolik eines Schutzraumes: Wie viel Schutz ist gut, und wird die Luft durch ihn dünner oder dicker?
Mit sieben wechselnden, sich auf und ab senkenden Pollern, die unkontrolliert und überraschend ihre Bedeutung verändern, werden die Antipoden „Abschaffung“ und „Freiheit“ thematisiert. Ein hochgefahrener Poller symbolisiert uns vermeintlichen Schutz, Abgrenzung, Kontrolle und Halt, ein heruntergefahrener, kaum sichtbarer Poller vermittelt uns Freiheit, Zufahrt und Toleranz. Die perfekt sitzenden Glasstürze beschützen dieses Spiel und lassen ihm freien Lauf. Unter ihnen lassen sich kleine Zitate wie Aschenbecher, Flaschendeckel oder Flyer aus den langen Gängen des Gebäudes finden, welche die Besucher:Innen an das alltägliche Leben und Treiben in der Akademie erinnern. Den nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie verstärkten Zustand des luftleeren Raums, der sich auch in den Räumen der Akademie festgesetzt hat, visuell und spürbar zu übersetzen, schien für Milen Till ein reiner und notwendiger Beitrag zu sein, der mit einer Abschlussarbeit geleistet werden kann. Für lange Zeit gab es in den letzten zwei Jahren nichts anderes als diesen Zustand. Keine Freiheit, keine Reisen, keine Kinos, lange Zeit auch keine Museen. Es gab nur das Innere und die so ungewohnt leeren Räume, in denen ein paar wenige Menschen sich aufhielten. Die Maßnahmen, unter anderem die Absperrung der öffentlichen Gebäude, kamen so plötzlich und doch in Zeitlupe, wie die herausfahrenden Poller aus ihrem Sockel.