Aus dem Kreis der Alumnae (m/w/d): Sonja Allgaier, Maya Hermens, Michael Hofstetter, Kirsten Zeitz
Müsste man eine Architektur wählen, in der alle aktuellen gesellschaftlichen Widersprüche
vereinigt sind, dann würde die Orangerie ziemlich weit oben im Ranking liegen.
Orangerien sind Gehäuse, die unser Begehren nach exotischen und warmen Lebensräumen
repräsentieren. Ihre ursprüngliche Funktion: Die Aufbewahrung von nicht winterfesten
Zitruspflanzen erweiterte sich schnell in allerlei Lustbarkeiten – darunter auch
das Zurschaustellen von Gemälden. Fortschrittlichere Varianten zur Herstellung eines
künstlich warmen Klimas kennen wir als Gewächshäuser. 1851 fand die erste Weltausstellung
in einem solchen – ins Gigantische vergrößert – Gewächshaus statt. Die Menschheit
zeigte in diesem fußballfeldgroßen, künstlich klimatisierten Raum in einem Wettkampf
der Nationen, ihre technischen Innovationen – darunter auch Kunstwerke. Neben dem
Konkurrenzkampf als Daseinssport, legten diese Weltausstellungen in den Kristallpalästen
des 19. Jahrhunderts auch das Klima fest in dem die kulturell fortschrittliche und erfolgreiche
Menschheit fortan existieren wollte: Das arkadische Klima des Mittelmeerraumes.
Dostojewski fand bei seinem Besuch der Weltausstellung in London 1862 diese künstliche
mediterrane Rauminsel, die zu den Armenvierteln der Stadt einen krassen Widerspruch
bildete so pervers, dass er zurück in St. Petersburg sein berühmtes Buch „Aufzeichnungen
aus einem Kellerloch“ schrieb. Seitdem gilt in der Kunst auch der Satz: Die Welt ist nur
dort wahr, wo sie kalt und unwirtlich ist. Zu dem klimatisierten Raum des Kunstsalons
gesellte sich das Kellerloch als Genius Loci.
Seit der ersten Studie des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums aus dem Jahre
1972 hat die künstliche Erwärmung des kapitalistischen Weltinnenraums eine zynische
Wende bekommen. Der Wohlstand müsste sich selbst auf niedrigere Temperaturen herunterregeln
um auf dieser Erde zu überleben. Das Begehren nach Eis ist nicht mehr nur
der lustvolle Exzess einer wohltemperierten Partygesellschaft, sondern der revolutionäre
Wahlslogan der Volt-Partei für die Europawahl 2024. Das Motto von Nietzsches Zarathustra
„Für Alle und Keinen“ ist jetzt zum Orakel für die Menschheit geworden.
Maya Hermens, Sonja Allgaier, Michael Hofstetter und Kirsten Zeitz kennen sich aus der
Akademie der Bildenden Künste München. Sie kommen aus unterschiedlichen Meisterklassen
und Jahrgängen – repräsentieren verschiedene Gattungen und Herangehensweisen.
Ihre künstlerischen Arbeiten reizen die ganze Bandbreite dieser – nicht nur klimatischen
– Widersprüche in der Ausstellung „Für Alle und Keinen“ in der Orangerie im
Englischen Garten in München spielerisch aus: Sensible Zeichnungen neben kristallinen
Fotografien, medienkritische Aquarelle neben existenziellen Performances, Kleidermode
neben Skulpturen – Alltag neben Abgrund. Die Ausstellung verstärkt die Widersprüche
des Gebäudetyps der Orangerie: die Vereinbarkeit in der Unvereinbarkeit, das Bewusstsein
des Kellerlochs im Kristallpalast, das Unnatürliche in der Natur. Kurz: Verzweiflung
und Genuss in üppiger Schönheit.
2024 Shiva Lachen