Klasse Peter Kogler  |  Raum Altbau | A.O1.22

 

Lieber Sebastian,

 

die Zeit in deiner Arbeit scheint suspendiert, gedehnt, gefaltet – als könnte man zwischen den Schichten hindurchgreifen und sie wie einen losen Faden aus dem Gewebe ziehen. Ich stehe vor deinem Bild und frage mich, wie es wirklich war. Ein Zustand, eine Summe von Momenten, ein zersplittertes, ungreifbares Ganzes – so ist Erinnerung, denke ich, ein Flickwerk aus Augenblicken, die erst im Nachhinein Bedeutung erlangen.

 

Die Vergangenheit lauert in den Dingen – im Geruch eines Treppenhauses, im Echo eines Satzes, der an der falschen Wand verhallt. Und dann stürzt es über uns herein – l’édifice immense du souvenir. Die Akademie als topografische Manifestation von Erinnerung, Ort der Verheißungen und Enttäuschungen zugleich. Ein Wimmelbild aus Gesichtern, Räumen, Nächten, Gesprächen; aus Erschöpfung, Euphorie, Kummer; aus der Unübersichtlichkeit der Jahre. 
Flüchtige Gestalten, nachträglich aneinandergefügte Szenen, Schattenrisse von Gesprächen. 
Abbild eines Ortes, so, wie du dich an ihn erinnern wirst – und doch nie war.

 

Das Faszinierende an Wimmelbildern ist, finde ich, ihre Unendlichkeit. 
Sie zwingen den Blick ins Oszillieren – zwischen distanzierter Übersicht und versunkener Betrachtung. Ihre Struktur ist eine Metapher für den Erinnerungsprozess selbst: eine dichte Überlagerung aus Momenten, kollektiven wie individuellen Spuren, die sich nicht restlos entschlüsseln lassen. Erinnerung ist fragmentarisch, ihr bewusstes Ansteuern illusorisch. Wir sind es oft nicht, die erinnern – vielmehr wird uns erinnert. Eine Hand streicht eine Erinnerung in unser Bewusstsein – und im nächsten Moment verschwunden im Blau.

 

Du hast ein Bild geschaffen, das sich dem Blick entzieht und zugleich seine eigene Enthüllung inszeniert. Ein Gewebe aus Begegnungen, Fragmenten, ein monochromes Mosaik. Jede Berührung schafft neue Verbindungen, neue Bedeutungen. Für jede eine andere Assoziation, für jeden ein anderes Gefühl. Deine Arbeit stellt die Frage nach der Erinnerung als performativen Akt – ein fortwährendes Neuverhandeln der Vergangenheit in der Gegenwart.

 

In der Kunst hält sich der Mythos vom singulären Schaffensprozess. 
Vieles bleibt Außenstehenden unzugänglich: unlesbare Zitate, hermetische Institutionen, implizites Wissen. Vielleicht, weil Kunst eine kontestierte Disziplin ist, die sich aus dem Ungesagten nährt, gibt es diese konstituierenden Geheimnisse – nicht nur in den Werken selbst, sondern auch in den Räumen, in denen Kunst entsteht und gezeigt wird. Der Wunsch, einen Blick ins Innere dieses Systems zu erhaschen, bleibt. Deine Arbeit zeigt etwas banalen Alltag. Das finde ich sehr angenehm.

 

Schreib mir, wie es deinen Eltern gefallen hat.

 

Ich grüße dich herzlich,
Lou

 

Instagram: @zaugq

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