Die Arbeit “Brudermale – Eine Studie über Glück” erforscht in einem ca. 11-minütigen Video ein Spannungsfeld zwischen den schicksalhaft, zufällig gegebenen Parametern im Koordinatensystem einer Biografie und dem Versuch, darin die Variablen zu finden, mit welchen Linnéa Schwarz ein Stück ihrer individuelle Freiheit wahrzunehmen versucht.
So wird ein Stück ihrer Lebensrealität zu Fiktion, gleichzeitig ist das Resultat real und permanent.
Der Film lässt sich grob in zwei Teile unterteilen, in welchen im ersten zunächst in einer alchemistisch anmutenden Bilderwelt Eisenoxid (Fe₂O₃), also Rost, von Eisennägeln (Fe) in Verbindung mit Wasserstoffperoxid (H₂O₂) gewonnen wird:
Fe + H₂O₂ → Fe₂O₃ + H₂O.
Als dieses zu einem Pigment vermahlen wird, beginnt der zweite Teil, in welchem Linnéas Bruder im Bild erscheint und anfängt, in einer vertraut anmutenden Szenerie drei der Muttermale seiner Schwester im gleichen Abstand zur Wirbelsäule als Achse auf die andere Körperhälfte zu spiegeln und zu markieren.
Als er nun beginnt, die Markierungen mittels Stick-and-Poke-Technik in die Haut zu tätowieren, während Linnéa Schwarz synchron Lottoscheine ausfüllt, manchmal innehält, wenn der Schmerz sie überrascht, erklärt sich der Titel der Arbeit: Es entstehen drei Brudermale, welche den zufällig, vielleicht unfreiwillig gegebenen Muttermalen etwas entgegensetzen, zumindest jedoch etwas hinzufügen.
Die Arbeit erzählt von Familienbanden, von der Wahl, die man* erst als Erwachsene treffen kann, vom Versuch, dem eigenen sozialen Ursprung zu entwachsen, von der verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit des Gelingens und von Selbstsabotage (hat sie Glück und tippt sechs Richtige, hat sie trotzdem Pech, denn sie hat sie ja nicht eingelöst. Aber wie auch? Die Lottoscheine sind veraltet, und bezahlen kann das auch keine*r). Gleichzeitig erfährt man von heimlichen Siegen, die von außen kaum wahrnehmbar sind, aber im Inneren von großer Bedeutung.
Linnéa Schwarz assoziiert ihre Performance nicht mit masochistischen Tendenzen, sondern mit Heilung und Zugehörigkeit; wie schon Steinzeitmensch Ötzi sich mit Tätowierungen an lädierten Stellen seines Körpers Heilung versprochen hat, und auch Assoziationen im Sinne einer Clanzugehörigkeit oder Blutsbrüderschaft werden wach.
Instagram: @linnea_schwarz