"Ein explizit artifizieller Ableger in der Kunst des Barockzeitalters war das sogenannte „Capriccio“. Die Herkunft dieser Bezeichnung ist unklar, doch vermutet die etymologische Forschung, dass sie aus der Zusammensetzung der italienischen Wörter „capo“ (Kopf) und „riccio“ (Igel) entstanden ist und demnach wörtlich mit „Igelkopf“ oder „Wirrkopf“ übersetzt werden könnte. Bei den Bildern handelt es sich meist nicht um reine Landschaftsräume, sondern um Orte für eine freie Ansammlung von Figuren und Gegenständen. Typisch für das Capriccio war, dass es die Konventionen der sonst hierarchisch voneinander getrennten Bildgattungen (Historie, Porträt, Genre, Landschaft, Stilleben – in genau dieser Reihenfolge) bewusst verwischte, dass die Künstler mit dem Capriccio Regeln und Grenzen spielerisch neu definierten und somit kühn Freiheiten für sich in Anspruch nahmen, die im Rückblick als ein erstes Fundament der antiakademisch agierenden Moderne angesehen werden dürfen.
Vor diesem Hintergrund ist es reizvoll, die Landschaften von Hell Gette als Capricci des 21. Jahrhunderts zu betrachten. Das Zeitgenössische liegt dabei vor allem darin, dass die Arbeiten den Konflikt [...] der analogen mit der digitalen Welt spielerisch in den Werkprozess einbinden. Dies geschieht, indem die Künstlerin das im Internet Gefundene [...] an die traditionelle Ölmalerei rückbindet – und so einen höchst aktuellen Bildbegriff widerspiegelt, der alle Medien als gleichberechtigt ansieht. Gleichzeitig machen die Bilder von Hell Gette deutlich, wie stark unsere Erfahrungen heute nicht nur von Bildvorlagen (der Kunst, des Kinos, des Fernsehens, der Werbung, der sozialen Medien etc.) geprägt sind. Darüber hinaus zeigen sie, dass auch unsere Gefühle durch Vorbilder oder eben Bildzeichen Ausdruck finden, dass also insgesamt eine schleichende Entfremdung des Körpers von einer unmittelbaren Empfindung stattfindet – vorausgesetzt, dass es eine solche Empfindung in Reinform je gegeben hat. Aber auch dies artikuliert Hell Gette in ihren Bildern eher als Beobachtung denn als Kritik."
(Ausschnitt aus "Capricci des 21. Jahrhunderts. Die Landschaften von Hell Gette", Prof. Dr. Bernhart Schwenk)
Hell Gette studierte an der AdBK München Malerei in der Klasse von Prof. Markus Oehlen. 2018 wurde sie zum Diplom mit der Debütant*innenförderung ausgezeichnet.