Macht des Materials/Politik der Materialität (2012/13)

 

In bildender Kunst, Architektur und Design findet gegenwärtig eine Neubewertung des Materials statt. Junge Künstler*innen verbinden krude oder ungewöhnliche Werkstoffe mit einer minimalistischen Formensprache und stellen auf diese Weise Physis und Ästhetik der Materialien in den Vordergrund. Es ist von neuen Alchimisten die Rede, von einer Interaktion mit und einem „Lenken lassen“ durch das Material.

 

Kultur- und Sozialwissenschaften proklamieren im selben Zug einen „material turn“, da in vielen wissenschaftlichen Disziplinen eine „parallele Neufokussierung der Forschung“ (Bachmann-Medick) auf die Materialität zu verzeichnen ist. So betont der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour, dass (natur)wissenschaftliche Tatsachen nicht nur durch gesellschaftliche Praktiken und sprachliche Diskurse, sondern auch durch die widerständige Materialität der Dinge erzeugt werden. Colin Renfrew entwickelte in der Archäologie die „Material Engagement Theory“, welche die aktive Rolle der materiellen Welt für die Entwicklung sozialer Strukturen, religiöser Konzepte oder gesellschaftlicher Wertesystem hervorhebt. Man entdeckt seit einigen Jahren also die materiellen Aspekte von Wissensgenerierungen und sozialen Praktiken wieder, ebenso wie die von Kommunikationsprozessen und ästhetischen Produktionen. Außerdem wartet die Materialforschung gerade in den letzten zwei Jahrzehnten mit einer großen Anzahl neuer Materialien auf, denen das Potential zu einer grundlegenden Veränderung der Wirtschaft sowie der Gesellschaft als Ganzes zugetraut wird.

 

Das interdisziplinäre Studienprogramm der Akademie der Bildenden Künste München widmet sich mit seinem ersten Jahresthema der aktuellen Konjunktur von Material und Materialität in den künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen. Der Fokus liegt dabei auf der neu entdeckten Widerständigkeit und Wirkungsmacht von materiellen Phänomenen in den Künsten und in den Wissenschaften. Er liegt auf ihrem produktiven Anteil an sozialen, künstlerischen und epistemischen Prozessen.

 

Das Programm nimmt mit diesem Thema seinen Ausgangspunkt bei der stofflichen Basis allen künstlerischen und gestalterischen Arbeitens, bei den materiellen Grundbedingungen von Schöpfungs- und Entwicklungsprozessen. Es analysiert in Theorie und Praxis den zeitgenössischen Umgang mit Material in bildender Kunst, Architektur und Design – und setzt dies in Bezug zu einer Neudefinition und Neubewertung von Materialität in den Natur- und Sozialwissenschaften. Ob letztere auch das Potential zu gesellschaftlich und geopolitisch positiven Veränderungen oder ethisch motivierten Verhaltenskorrekturen besitzen, wie es Vertreter eines Neuen Materialismus nahe legen, wird ebenfalls eine der zentralen Fragen sein.

 

Jahresthema „Macht des Materials/Politik der Materialität“

Interdisziplinäre Vorlesungsreihe (WS 2012/13)

 

05.02.2013

Vom historischen Materialismus zum spekulativen Realismus

mit Diedrich Diederichsen


Diedrich Diederichsen (*1957 in Hamburg) arbeitete in den 1980ern als Redakteur und Herausgeber von Musikzeitschriften, in den 1990ern als Hochschullehrer u.a. in Frankfurt, Stuttgart, Pasadena, Weimar, Wien, St. Louis, Köln, Los Angeles und Gainesville. Seit 2006 ist er Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der Bildenden Künste, Wien. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören die Bücher Über Pop-Musik (2014), The Whole Earth – Kalifornien oder das Verschwinden des Außen (mit Anselm Franke, 2013), The Sopranos (2012), Utopia of Sound (mit Constanze Ruhm, 2010), Über den Mehrwert (in der Kunst) (2008), Kritik des Auges – Texte zur Kunst (2008) und Eigenblutdoping – Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation (2008).

 

 

Jahresthema „Macht des Materials/Politik der Materialität“

Interdisziplinäre Vorlesungsreihe (WS 2012/13)

 

22.01.2013

Das Versprechen intelligenter Werkstoffe

mit Thomas Schröpfer und Nicola Stattmann


Thomas Schröpfer ist Professor und assoziierter Dekan des Bereichs Architecture and Sustainable Design an der Singapore University of Technology and Design (SUTD), das in Zusammenarbeit mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) gegründet wurde. Der ausgebildete Architekt hat 2004 an der Harvard University promoviert und forscht u. a. zu der Rolle von Materialinnovation im architektonischen Entwurfsprozess und zu der nachhaltigen architektonischen Entwicklung der Stadt. Zu seinen Publikationen zählen Material Design: Materialität in der Architektur (Birkhäuser 2011) sowie Ecological Urban Architecture: Qualitative Approaches to Sustainability (Birkhäuser 2012). Architektur als materielle Praxis spielt sowohl in seinen eigenen wissenschaftlichen Forschungen eine Rolle als auch in den Projekten des von ihm mitbegründeten Architekturbüros Schröpfer + Hee mit Sitz in Cambridge, Massachusetts und Singapur.

 

Nicola Stattmann arbeitet seit 2002 mit eigenem Designbüro in Frankfurt am Main. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit als Designerin und Materialexpertin liegt auf dem Einsatz neuer Materialien und Technologien im Produktdesign. Zu ihren Kunden zählen etwa Adidas, Fissler, Samsung und Volkswagen. 2011 gründete sie mit ihrem Bruder die im westfälischen Ascheberg ansässige Firma Stattmann Neue Möbel, die ein ausgewähltes Möbelprogramm aus nachhaltigen Materialien auflegt. Die diplomierte Produktdesignerin war seit 2004 u.a. Gastprofessorin an der Bauhaus-Universität Weimar, der Hochschule für Gestaltung Offenbach und der Kunsthochschule Kassel. In Publikationen wie Ultra Light – Super Strong (Birkhäuser 2003) und Unfolded (mit Petra Schmidt, Birkhäuser 2009) beschäftigt sie sich mit dem Potential neuer Materialien in der Produktgestaltung respektive mit dem Werkstoff Papier.

 

Jahresthema „Macht des Materials/Politik der Materialität“

Interdisziplinäre Vorlesungsreihe (WS 2012/13)

 

15.01.2013

Text und Stoff

mit Cornelia Ortlieb

 

Cornelia Ortlieb


Cornelia Ortlieb hat Neuere Deutsche Philologie, Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie studiert und ist seit 2011 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München. Sie hat sich in verschiedenen Projekten mit Fragen des Materials und der Materialität in den Künsten befasst, darunter besonders mit der Mitwirkung von Materialien beim Schreiben und verschiedenen Formen der Papierarbeit. Zu ihren jüngeren Publikationen zur materialen Seite des Schreibens und zur Theorie der Materialität zählen unter anderem Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart (2010), Jean Pauls Punktiermanier (2011), Schöpfen und Schreiben: Weimarer Papierarbeiten (2012), Papierflügel und Federpfau. Materialien des Liebeswerbens bei Stéphane Mallarmé (2013).

 

 

Jahresthema „Macht des Materials/Politik der Materialität“

Interdisziplinäre Vorlesungsreihe (WS 2012/13)

 

10.01.2013

Die (Im)materialität der Ökonomie

mit Costas Lapavitsas und Anja Kirschner mit David Panos

 

Costas Lapavitsas

 

 

Anja Kirschner und David Panos

 

Costas Lapavitsas ist Professor für Wirtschaft an der School of Oriental and African Studies, University of London. Er arbeitet zur politischen Ökonomie des Geldes und Finanzwesens, zur japanischen Ökonomie, zur Geschichte der Ökonomie und des ökonomischen Denkens und zur gegenwärtigen Weltwirtschaft. Er hat zahllose Beiträge und Bücher publiziert, darunter Beyond Market-Driven Development (mit Makoto Noguchi, Routledge 2005), Financialisation in Crisis (Brill 2012 und Crisis in the Eurozone (Verso 2012). Sein letztes Buch Profiting without Producing (Verso 2013) diskutiert die Finanzialisierung des Kapitalismus.

 

Anja Kirschner und David Panos (Athen, London) verbinden in ihren gemeinsamen Filmen und Installationen Momente der Gegenwart mit historischen Recherchen und literarischen Quellen. In ihrer Videoinstallation Ultimate Substance (2012), gedreht und realisiert in Griechenland, setzen die Künster*innen sich mit dem Verhältnis von ökonomischer und kultureller Logik auseinander. Dabei machen sie den Silberabbau und die Münzprägungen im antiken Griechenland zum Ausgangspunkt einer filmischen Reflexion der derzeitigen Finanzkrise. Anja Kirschner und David Panos waren 2011 die Gewinner*innen des Jarman Award (UK) und hatten unter anderem Einzelausstellungen in der Secession, Wien, der Extra City, Antwerpen, dem Neuen Berliner Kunstverein, Berlin, dem Artists Space, New York und der Transmission Gallery, Glasgow (2012). Darüber hinaus nahmen sie an Gruppenausstellungen im Palais de Tokyo, Paris, der Lisson Gallery, London (2013) sowie der Liverpool Biennale (2012) und der British Art Show 7 (2010/11) teil.

 

Jahresthema „Macht des Materials/Politik der Materialität“

Interdisziplinäre Vorlesungsreihe (WS 2012/13)

 

11.12.2012

Materielle Umwertungen

mit Manfred Pernice


Manfred Pernice (*1963 in Hildesheim) lebt und arbeitet in Berlin, wo er zum Wintersemester 2012/13 als Professor für Bildhauerei an die Universität der Künste Berlin berufen wurde. Er studierte an der HBK in Braunschweig (1984–86) und der HdK in Berlin (1988–94). Seine Arbeiten sind weltweit in internationalen Museen und Sammlungen vertreten. 2011/2012 waren sie u.a. in Einzelausstellungen in der Anton Kern Galerie, New York, im DCA Dundee Contemporary Arts, Dundee, dem n.b.k. Berlin zu sehen und 2013/14 im Haus der Kunst, München.

 

Jahresthema „Macht des Materials/Politik der Materialität“

Interdisziplinäre Vorlesungsreihe (WS 2012/13)

 

27.11.2012

Die Ökologie der Materialien

mit Tim Ingold und Max Lamb

 

Max Lamb

 

 

Tim Ingold

 
Tim Ingold ist seit 1999 Professor für Sozialanthropologie an der University of Aberdeen. Er unternahm Feldforschungen in Lapland und publizierte unter anderem zu den sozialen Organisationsformen, Technologien und Lebensumständen am Nordpol, zur Evolutionstheorie, Mensch-Tier-Beziehung, Sprache und Werkzeuggebrauch, oder Umweltwahrnehmung. Derzeit forscht er zu Themen an den Schnittstellen von Anthropologie, Archäologie, Kunst und Architektur und plädiert für eine Wiedervereinigung von Theorie und Praxis. Zu seinen jüngsten Buchveröffentlichungen gehört unter anderem Making (Routledge 2013).

 

Max Lamb erforscht Materialien auf unkonventionelle Weise. Der britische Designer hinterfragt herkömmliche Auffassungen von Werkstoffen und ihrer Verarbeitung. Lamb studierte drei-dimensionales Design an der Northumbria University und Produktdesign am Royal College of Art in London und betreibt heute ein Designstudio im nördlichen Teil Londons. Zu seinen Arbeiten zählen Möbel und Objekte für Labels wie Deadgood und Makers and Brothers sowie Einzelaufträge für die Designgalerien Libby Sellers in London und Johnson Trading Gallery in New York. Seit 2012 lehrt er an dem Lehrstuhl Design Products am Royal College of Art.

 

Jahresthema „Macht des Materials/Politik der Materialität“

Interdisziplinäre Vorlesungsreihe (WS 2012/13)

 

13.11.2012

Materielles Unterfangen

mit Sofia Hultén und Colin Renfrew

 

Colin Renfrew

 

Sofia Hultén (*1972, Stockholm) arbeitet und lebt in Berlin und unterrichtete hier 2012 als Gastprofessorin an der Weißensee Kunsthochschule. Die Arbeiten der schwedischen Künstlerin waren bereits in zahlreichen internationalen Gruppenausstellungen zu sehen, unter anderem im Kunstverein Frankfurt, der National Gallery of Iceland, dem Guangdong Museum in Guangzhou, im Skulpturenpark Köln, dem Moderna Museet Stockholm, der Kunsthalle Glarus, dem Today Art Museum Beijing oder dem Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen. Zu ihren Einzelpräsentationen zählen Ausstellungen im Künstlerhaus Bremen, der Ikon Gallery Birmingham, der Konrad Fischer Galerie Düsseldorf, Berlin, der Langen Foundation in Neuss und dem Kunstverein Braunschweig. Hultén nahm am IASPIS Residency Program (2007) teil, ist Stipendiatin der Stiftung Kunstfonds (2009) und erhielt 2011 den Moderna Museets Vänners Skulpturpris.
 
Colin Renfrew, Prof. Dr. em., war von 1987 bis 2004 Disney Professor of Archaeology an der Universität Cambridge und später Direktor des McDonald Institutes für Archäologische Forschung, wo er noch heute als Senior Fellow forscht. Einer seiner beiden Hauptforschungsschwerpunkte liegt auf der frühen europäischen Kulturentwicklung und basiert auf mehreren wichtigen Ausgrabungen zu frühen Bronzezeit-Kulturen in der Ägäis. Ein anderer widmet sich der Entwicklung der „Material Engagement Theory", welche die kognitiven wie physischen Aspekte menschlicher Involvierung in der materiellen Welt berücksichtigt. Er ist Fellow der British Academy, gewann zahlreiche internationale Preise und wurde 1991 zu einem Life Peer als Baron Renfrew of Kaimsthorn erhoben.

 

Jahresthema „Macht des Materials/Politik der Materialität“

Interdisziplinäre Vorlesungsreihe (WS 2012/13)

 

06.11.2012

Das neue Bild der Materie

mit Harald Lesch


Harald Lesch ist seit 1995 Professor für Theoretische Astrophysik am Institut für Astronomie und Astrophysik an der Universitätssternwarte der Ludwig-Maximilians-Universität München und unterrichtet Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. Zu seinen Hauptforschungsgebieten zählen kosmische Plasmaphysik, Schwarze Löcher und Neutronensterne. Er ist unter anderem Fachgutachter für Astrophysik der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Wissenschaftsjournalist und Fernsehmoderator und wurde für seine Lehre bzw. Publizistik mir zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Jahresthema „Macht des Materials/Politik der Materialität

Interdisziplinäre Vorlesungsreihe (WS 2012/13)

 

25.10.2012

New Materialisms

mit Diana Coole

 

Diana Coole

 

Diana Coole ist Professorin für politische Theorie und Sozialtheorie an der Birkbeck Universität in London. Derzeit schreibt sie an einem Buch zur Politik und Ethik der Bevölkerungsfrage, das auf Ergebnissen ihres Forschungsstipendiums des Leverhulme Trust (2010–2013) basiert. Sie ist Mitherausgeberin der achtbändigen Blackwell Encyclopedia of Political Thought (2014). Zu ihren jüngsten Buchveröffentlichungen zählen Merleau-Ponty and Modern Politics after Anti-Humanism (2007) und The New Materialisms. Ontology, Agency, and Politics (mit Samantha Frost 2010).